Vorbeigegangen bin ich an dieser Wand schon in meiner Kindheit. Während meiner Grundschulzeit jeden Tag. Heute, nachdem ich vor 2 Jahren wieder in meine Heimat Kühlungsborn zurückgekehrt bin, blicke ich auch fast jeden Tag dort hin. Die Schule ist saniert, die sozialistische Kunst ist geblieben. Meine Tochter geht nun dorthin.
Alles war überschaubar vor 1989: der Ehm-Welk-Anger, wo ich aufgewachsen bin, die Krippe und der Kindergarten direkt gegenüber, die Fritz-Reuter-Grundschule daneben, dahinter auch das spätere Gymnasium, Spielen im Stadtwald an der zweiten Ecke, der Strand nur 500 m entfernt. Ich fühle Idylle und Verbundenheit.
Als ich am 9. November 1989 mit 8 Jahren abends im Schlafanzug ins Wohnzimmer kam, saßen meine Eltern aufgeregt laut mit Freunden und Sekt vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Was es denn zu feiern gebe? Die Mauer ist gefallen. Ich trottete zurück in mein Zimmer und wunderte mich, dass sie so laut waren, dass ich nicht einschlafen konnte.
Danach Stück für Stück ist sie aufgebrochen, die heile Welt. Licht kam ins Dunkel und eine Freiheit erschien. Die nächsten Jahre verbrachten wir die Ferien bei unserer Familie im südlichen Westdeutschland und Holland und fuhren nach Frankreich, Italien und Griechenland. Und endlich reisten meine Eltern in die USA. Mein Vater war glücklich. Er brauchte lange, bis er seine Stasiakte anforderte. Seit seinem Tod steht sie bei mir.
Verletzungen - Chancen, die nicht gegeben wurden - Bevormundung - Demütigung - unverstanden fühlen - der Zwang nach Anpassung - das Gefühl, etwas verpasst zu haben – mitmachen, damit alles seinen Gang geht - Dummheit, die nicht zu verstehen ist - Mauern, die aufgebaut wurden, die aufgebrochen sind oder noch Wurzeln in uns tragen.
Alles kommt mir so vertraut vor, wenn ich durch den Stadtwald gehe, um meine Tochter vom Hort abzuholen. Und ich blicke auf diese Wand, sehe die Idealbilder vom sozialistischen Leben. Die DDR gehört zu uns, genauso wie das Leben danach. Und ich bin so dankbar, dass ich noch so viel mehr erleben kann.
Dankbar, dass durch den Mauerfall unser Leben so viel mehr an Freiheit bereithielt, ich schon an so vielen Orten war und lebte und lernte.
Wir entscheiden selbst, wo und wie und mit wem wir leben. Und wir alle tragen die Verantwortung dafür, über ein Leben in Freiheit und Demokratie - dass es so bleiben kann.
Julia Hillmann ist Jugendbildungsreferentin der Jungen Nordkirche in Mecklenburg-Vorpommern.