Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, als ich das erste Mal Angst gerochen habe. Behütet aufgewachsen in einem beschaulichen Vorort einer westdeutschen Großstadt, nahm meine Mutter mich für einige Tage mit nach West-Berlin. Ich sollte, wie man damals sagte, die Mauer sehen. Und natürlich wollten wir auch nach Ost-Berlin. An beides habe ich kaum Erinnerungen, was mir aber noch immer präsent ist: Die Zugreise via Helmstedt und Marienborn, einem der damaligen Grenzübergänge.
Wenn ich nur daran denke, sehe ich vor meinem inneren Auge das Zugabteil in den für die späten 1970er Jahre typischen Farben, die immer klebrigen Sitze, im Abteil (mit Ausnahme meiner Mutter und mir) nur ältere Herrschaften, die meine Aufregung und Reisefreude und auch meine Jugend nicht goutierten, die Blicke und hochgezogenen Augenbrauen sprachen eine deutliche Sprache – ohne dass auch nur ein Wort gefallen wäre, wie sich überhaupt ein beklemmendes Schweigen breit machte, je näher der Interzonenzug dem Grenzübergang kam.
Mir gegenüber saß eine weißhaarige Frau, klein, gedrungen, angetan mit einem schwarzen, in meiner Erinnerung wollenen Reisekostüm, dazu schwere schwarze Schuhe, auf dem Schoss eine klobige schwarze Handtasche. Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen, aber damals wusste man es beim ersten Anblick: Eine Witwe, vielleicht sogar eine Kriegswitwe. Sie saß steif auf ihrem Sitz, ihre Handtasche hielt sie fest umklammert, meist starrte sie aus dem Fenster.
Dann kam die Passkontrolle, im gesamten Zug macht sich eine bleierne Stille breit. Es war so still, dass die Stimme des Kontrolleurs schon von weitem zu hören war, lange bevor er auch nur in die Nähe unseres Abteils kam. Was er sagte und ob er wirklich in sächsischem Dialekt sprach, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch sehr genau, dass ich so einen Dialekt noch nie gehört hatte und mich darüber amüsierte, mehr noch, seine Stimme lautstark imitierte.
Die Mitreisenden im Abteil hielten scharf den Atem an, nur die ältere Frau mir gegenüber reagierte. Mit aufgerissenen Augen zischte sie mich an, ich solle schweigen, ihr ganzer Körper war ein einziger Vorwurf: Ich würde sie alle in Gefahr bringen. Und ja, es war ihre Angst, die ich riechen konnte; es war ihre Angst, die mich stumm machte – auch wenn ich damals nicht verstanden habe, was ich getan hatte.
Ich frage mich oft, warum so viele von uns solche Schauergeschichten im Gepäck haben, wenn wir uns als geborene Wessis an die DDR erinnern. Ich kenne unzählige solcher Erzählungen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, die noch heute – 35 Jahre nach dem Mauerfall – häufig im Gestus der schaurigen Anekdote vorgetragen werden (oder eben als kleine Heldengeschichte, weil man dem Grenzer oder einem anderen Uniformierten ein Schnippchen geschlagen hat).
Warum können so viele von uns noch immer nicht von diesen Gruselgeschichten lassen? Dass die damalige Angst real empfunden wurde, will ich keinesfalls in Abrede stellen, ebenso wenig, dass es dafür sehr handfeste Anlässe gab (auch davon könnte ich aus eigener Erfahrung berichten). Aber mal davon abgesehen, dass wir, anders als jene, die damals in der DDR lebten, diese Schauergeschichten auf der Durchreise oder auf der sicheren Seite der Grenzbefestigungen etwa auf dem Priwall erlebt haben – was sagen sie über unsere Wahrnehmung der DDR aus?
Erzählen wir uns mit diesen Anekdoten nicht noch immer oder immer wieder die einseitige Geschichte eines abgrundtief bösen, eines menschenverachtenden Staates, dessen Bürgerinnen und Bürger sich gefälligst dankbar für die neue Freiheit zeigen sollen? Was übersehen oder missverstehen wir, wenn wir uns die DDR ausschließlich angstbesetzt vorstellen können? Ich bin unsicher, wie ich aus dieser gedanklichen Falle herauskommen soll. Denn ich habe die Angst der alten Frau mir gegenüber im Zugabteil gerochen. Und sie roch bitter.
Dr. Bettina Greiner ist Leiterin des Willy-Brandt-Hauses in Lübeck.