22. Mai 2023

Rückblick: Interreligiöses Gedenken in Ravensbrück

Anlässlich des 78. Jahrestages der Befreiung veranstaltete die Zukunftswerkstatt "Interreligiöses Gedenken Ravensbrück" ihr diesjähriges Gedenken unter dem Titel "Mensch bleiben" als Rundgang über das ehemalige Lagergelände des Frauen-KZ.

Alle Fotos: © Eberhard J. Schorr, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

Am 23. April um 15 Uhr versammelten sich gut 50 Mitwirkende und Teilnehmende auf dem Vorplatz der ehemaligen Lagerkommandantur auf dem heutigen Gelände der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zum Interreligiösen Gedenken. Darunter waren in diesem Jahr auch Schüler*innen des Arndt-Gymnasium Dahlem in Berlin, die für das Gedenken große Plakate gesprüht hatten. Auf diesen Plakaten waren Worte wie "Stärke", "Glaube", "Hoffnung", "Liebe", "Mitgefühl" zu lesen - Worte, die für die Schüler*innen das Menschsein ausmachen.

[rechts im Bild: Pia Becker, Arndt-Gymnasium Dahlem/Berlin]

Zum Interreligiösen Gedenken hatte auch in diesem Jahr wieder die gleichnamige Zukunftswerkstatt eingeladen. Rabbinerin Ulrike Offenberg, Pastorin Maria Harder und Iman Andrea Reimann, Vorsitzende des Deutschsprachigen Muslimischen Zentrum Berlin, begrüßten die Teilnehmenden mit den Worten:

Als jüdische, muslimische und christliche Frauen und Männer haben wir diese Form des Gedenkens gemeinsam vorbereitet. Wir arbeiten zusammen aufgrund des Wissens, dass wir nicht voraussetzungslos leben, sondern bestimmt sind durch unsere Geschichte. Wir teilen den Schmerz und die Empörung über die furchtbaren Verbrechen, die hier, in Ravensbrück, Menschen anderen Menschen angetan haben. Uns verbindet die Überzeugung, dass dies das Mindeste ist, was wir den gequälten und getöteten Menschen schuldig sind. Uns verbindet die Überzeugung, dass das Wissen um Ravensbrück wichtig ist, das Wissen um das, was Menschen anderen Menschen anzutun in der Lage sind; dass es wichtig ist, um unsere Gegenwart besser zu verstehen - und unsere Zukunft zu gestalten.

[rechts im Bild (v.l.n.r.): Iman Andrea Reimann, Vorsitzende DMZ/Berlin; Pastorin Maria Harder, Fürstenberg/Havel, Rabbinerin Ulrike Offenberg, Berlin; Holger Schmidtke, Arndt-Gymnasium Dahlem/Berlin]

Vom Vorplatz aus begann der Rundgang über das ehemalige Lagergelände. Gleich an der ersten Station, dem Lagertor, wurden die Lebensworte der Schüler*innen zerrissen. Dazu wurde ein Text von Corrie ten Boom gelesen, die 1944 nach Ravensbrück deportiert worden war1:

Wieder ist es Nacht. Wir stehen auf dem großen Platz vor dem Hauptgebäude. Wir halten uns umschlungen und ziehen die aus Vught mitgebrachte Decke fest um uns herum. Es ist sehr kalt. Zwei Tage und zwei Nächte haben wir uns nun schon hier draußen aufhalten müssen. Jetzt stehen wir in langer Schlange vor dem Duschraum. In dem düsteren Haus neben uns liegen Stöße von Kleidern, Paketen, Koffer, Lebensmitteln und Wolldecken in wüstem Durcheinander, das allmählich zu einem Warenberg heranwächst. Den Zugezogenen werden ihre Habseligkeiten abgenommen. Dort liegen nun die für sie so wertvollen Besitztümer. Für einen hungrigen Häftling bedeutet der letzte Rest eines Rote-Kreuz-Paketes sehr viel. Jetzt werden die kärglichen Überreste noch schnell verzehrt, damit sie nicht in die Hände unserer Peiniger fallen können. Schlimmer aber noch ist es, dass auch unsere Kleidung ihnen zum Opfer fällt. Diejenigen, die aus dem Baderaum herauskommen, tragen dünne Fähnchen, darunter nur ein Hemd, und an den Füßen derbe Holzschuhe. Eine junge Frau neben mir sagt: "Ich finde dies viel schlimmer, als dass sie mir mein Haus fortgenommen haben." Sie erzählt von ihrer inmitten eines Rosengartens gelegenen hübschen kleinen Villa, von ihrem Stutzflügel und von vielen, vielen ihr liebgewesenen Dingen. "Nichts davon ist mir da, alles ist beschlagnahmt worden, aber dies hier ist bedeutend schlimmer. Gleich werden wir nicht einmal mehr eine Wolldecke haben, keine Kleider, nur eine leichte Hülle und ein Hemd." Ich fühle, wie Betsie zittert, und ziehe sie an mich. "Oh Herr, hilf uns, gib, dass man uns verschont", bete ich. Betsie ist so zart und schwach. Die Nacht ist stockfinster, aber ich kann doch noch sehen, wie viele schwache und alte Menschen an mir vorbei gehen. Sie kommen aus dem Duschraum ins Freie und haben nichts als ihre fadenscheinige Bekleidung: Alles, was nur ein wenig Wärme gab, hat man ihnen fortgenommen.

[rechts im Bild: Eingang auf das Gelände durch das ehemalige Lagertor; darunter: Schülerin und Holger Schmidtke, Pfarrer und Religionslehrer am Arndt-Gymnasium Dahlem/Berlin, beim Zerreisen der Lebensworte]

An weiteren Stationen des Rundgangs wurden weitere Texte gelesen, noch mehr Zeugnisse von Ravensbrücker Frauen, in denen thematisch zum Tragen kam, was es ihnen ermöglicht hatte in den lebensfeindlichen Bedingungen des KZ dennoch Mensch zu bleiben. Mit Improvisationen auf dem E.Piano und Gesang gestalteten der Templiner Kirchenmusiker Helge Pfläging und der Fürstenberger Kirchenchor das Gedenken musikalisch. Zwischen den einzelnen Stationen teilten die Teilnehmenden im Gespräch miteinander ihre Gedanken, Gefühle und Erinnerungen.

An der letzten Station, unweit der "Tragenden", dem Mahnmal von Ravensbrück, fügte sich manches wieder oder auch neu zusammen: die Lebensbilder der Schüler*innen, die Worte der Zeugnisse, die Musik und die Gedanken der Teilnehmenden. Mit Gebet und Segen der drei beteiligten Religionen endete das Gedenken.

1 Corrie ten Boom, Ravensbrück. Engel behüten uns (aus: Dennoch, 1960 , S. 104 f.)