FGM/C
Menschenrechtsverletzung Weibliche Genitalbeschneidung
Dialogräume eröffnen
Weibliche Genitalbeschneidung (Female Genital Mutilation / Cutting, FGM/C) ist eine Menschenrechtsverletzung, von der Frauen und Mädchen weltweit direkt oder indirekt betroffen sind. D.h. es geht auch um Mütter, Schwestern oder andere Angehörige, deren Töchter, Schwestern etc. davon bedroht oder daran verstorben sind, um Frauen, die Zeuginnen von FGM/C waren oder Menschen, die sich für die Überwindung von FGM/C einsetzen. Weltweit sind 200 Mio. Frauen und Mädchen betroffen. Die Zahlen der Betroffenen sind auch in Deutschland erschreckend hoch. Hier leben ca. 66.000 betroffene Frauen und 15.000 gefährdete Mädchen. Der Eingriff fügt schwere und dauerhafte körperliche und seelische Schäden zu und ist Ausdruck kulturell geprägter Vorstellungen von weiblicher Sexualität und Schönheitsidealen, die eine Ungleichbehandlung der Geschlechter fördern.
Diese Praktik lässt sich nicht mit Verboten allein unterbinden, noch weniger durch pauschale Verurteilungen von bestimmten Kulturen. Genau da setzt unser Projekt an: Wir treten in Dialog mit betroffenen Frauen, Beteiligten aus den Bereichen Kunst/Kunsttherapie, Frauensozialarbeit, Bildungsarbeit sowie Aktivist*innen aus migrantischen communities und Vertreterinnen aus Selbstorganisationen an verschiedenen Orten in der Nordkirche und entwickeln mit ihnen vielfältige Angebote. Damit ist auch die diversitätssensible Aufklärung von Fachkräften und Öffentlichkeit verbunden. Die Kombination unterschiedlicher Zugänge und Arbeitsweisen trägt der Komplexität dieses Themas Rechnung. So lassen sich neue Wege beschreiten.
Von Anfang an werden teilnehmende Frauen aktiv mit in die Gestaltung des Projekts einbezogen. In Workshops entsteht ein geschützter und einfach zugänglicher Raum, in dem ein alle Unterschiedlichkeiten und Sensibilitäten berücksichtigender Erfahrungsaustausch möglich ist. Eigenständig und je nach individuellem Bedürfnis, auch mit Unterstützung, können die Frauen Bewältigungs- und Veränderungsstrategien entwickeln. Häufig ist FGM/C mit Stigmatisierungen und intersektionalen Diskriminierungen verbunden und somit nicht die einzige belastende Problematik. Daher soll das Projekt auch Zugang zu gesellschaftlichen Netzwerken und Ressourcen ermöglichen. Die Workshops werden sowohl von kunsttherapeutisch als auch sozialpädagogisch erfahrenen Teams begleitet. Die Teilnehmerinnen sollen ermutigt und gestärkt werden, kraftvolle Botschaften und Kommentare zu formulieren und selbstbestimmt zu handeln. Ihre Bemühungen, FGM/C zu bekämpfen und Veränderungen in den communities herbeizuführen werden unterstützt und verstärkt.
Parallel dazu ist eine diversitätssensible Aufklärung über das Thema FGM/C für Kirche und Gesellschaft dringend geboten. Häufig wird das Problem nur bei den Anderen gesehen. Doch auch in der weißen Mehrheitsgesellschaft ist ein Reflexionsprozess über mit FGM/C verbundene Themen wie Sexualität und Schönheitsvorstellungen nötig, weil sie genauso Geschlechterstereotypen unterworfen ist. Das betrifft sowohl Vorstellungen von Weiblichkeit als auch von Männlichkeit. Transkultureller Austausch ist zentral für die am Projekt Beteiligten: Wir sind auf der Suche nach einer Sprache, die Unrecht klar benennt und gleichzeitig rassistische und Geschlechter-Stereotype vermeidet. Hierzu finden Fachtage statt.
Ein Kunst- und Bildungsprojekt
Ein Element des Projekts sind drei öffentliche Kunstperformances an unterschiedlichen Orten in der Nordkirche. In den Performances werden starke Frauen ihre Stimme erheben und mit ihrer Präsenz ein deutliches Zeichen für Frieden und die Überwindung von Gewalt und Ungerechtigkeit setzen. Die Performances wollen an unsere Verantwortung für eine chancengleiche Zukunft appellieren. Die universelle und transkulturelle Sprache von Kunst erreicht Menschen auf einer emotionalen Ebene und bringt gleichzeitig Denkprozesse in Bewegung.
Die drei Elemente, Workshops, Fachtage und Performances, werden interaktiv miteinander verwoben, um Synergien zu bewirken. Begleitend dazu ist ein Film über das Projekt geplant, der im Bildungsbereich eingesetzt werden kann. In diesem Film kommen betroffene Frauen zu Wort und bringen ihre Perspektiven zum Ausdruck.
“Stop All Violent Practices Against Women!” - Kunstperformance in Hamburg 2022
Unter diesem Motto fand im Rahmen des Internationalen Frauentags am 8. März 2022 eine künstlerische Intervention mitten im Zentrum Hamburgs statt. Eine Gruppe von Frauen und Mädchen aus dem migrantischen Kollektiv ARRiVATi unter Leitung von Lavanya Boesten und Sista Oloruntoyin gaben dem Schmerz über die immer noch allgegenwärtige Gewalt an Frauen und Mädchen mit ihren Stimmen und Körpern auf eindrucksvolle Weise Ausdruck. Die unterschiedlichen Formen sexualisierter Gewalt kamen zur Sprache: Vergewaltigung, auch im Kriegskontext, Demütigungen, Kontrolle über weibliche Sexualität u.A. „My body is not your battlefield“ war ein Slogan, der immer wieder auftauchte und deutlich machte, dass die Frauen sich nicht als wehrlose Opfer sehen, sondern selbstbewusst ihr Leben in die Hand nehmen. Sie forderten eine Ende aller Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper: „My body is my body! My body is not your body!“ Sie möchten diese Botschaft vor allem auch der Generation ihrer Töchter vermitteln. Zum Beispiel dann, wenn ein Eingriff wie die Beschneidung der weiblichen Genitalien droht, die erhebliche physische und psychische Folgen haben kann. Tausende Frauen und Mädchen sind auch hier in Deutschland von dieser Praktik betroffen oder bedroht. Seit 2021 gibt es einen bundesweiten Schutzbrief, der unmissverständlich deutlich macht, dass es sich dabei um eine Straftat handelt. Er soll Familien dabei helfen, ihre Töchter zu schützen. Doch ein Schutzbrief allein genügt nicht, es braucht auch ein Umdenken in den Köpfen. Die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen über ihren Körper und über ihre Sexualität darf nicht länger ein Tabu sein! Das Frauenwerk der Nordkirche hat zusammen mit weiteren kirchlichen Akteur*innen ein Projekt ins Leben gerufen, das dieses Thema in der Öffentlichkeit bekannter machen und auch betroffenen Frauen unterstützen möchte.
„Frauen und Mädchen, erhebt Eure Stimme!“ - Kunstperformance in Kiel 2023
Am 6. Februar steht weltweit das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit im Fokus. Dieses Recht ist Millionen von Frauen und Mädchen immer noch verwehrt, die von Zwangsgenitalbeschneidung betroffen sind. Genitalbeschneidung bei Frauen und Mädchen bedeutet, dass die äußeren weiblichen Genitalien teilweise oder ganz entfernt werden, ohne medizinische Notwendigkeit. Häufig stehen soziale und kulturelle Normen im Hintergrund. Der Eingriff erfolgt häufig ohne Betäubung und unter mangelhaften hygienischen Bedingungen. Die Betroffenen leiden in sehr vielen Fällen lebenslang unter körperlichen und psychischen Folgen wie z.B. Schmerzen, Probleme mit Menstruation, Geburt, Sexualität, Depressionen. Weibliche Genitalbeschneidung ist eine Menschenrechtsverletzung und in Deutschland eine Straftat.
Die Künstlerin Lavanya Honeyseeda (Hamburg) setzte mit ihrer Stimm- und Klangperformance auf dem Alten Markt in Kiel ein eindrucksvolles Zeichen. Sie gab betroffenen Frauen und Mädchen stellvertretend eine Stimme und forderte dazu auf, sich gemeinsam für die Überwindung von weiblicher Genitalbeschneidung stark zu machen. Die Performance ist Teil des Kunst- und Bildungsprojekts „Menschenrechtsverletzung weibliche Genitalbeschneidung – Dialogräume eröffnen“ der Nordkirche. Im Rahmen des Projekts finden auch Empowerment-Workshops für betroffene Frauen sowie Fachveranstaltungen statt.
Im benachbarten Popup-Pavillon war die Ausstellung #starke Stimmen des Diakonischen Werks Altholstein zu sehen, in der sich Frauen und Männer aus Politik und Gesellschaft für die Überwindung von weiblicher Genitalbeschneidung aussprechen. An der Foto- Aktion „461 Hands“ STOP FGM/C konnten sich Besucher*innen beteiligen.
Kunstperformance in Schwerin 2023
Auch in Schwerin fand im Rahmen des Projektes eine Kunstperformance statt. Am 14.06.2023 verlieh Lavanya Honeyseeda gemeinsam mit der Muiskerin Clarks Planet dem Schmerz über die fortbestehende Verletzung der Würde und Unversehrtheit von Frauen und Mädchen einen sehr eindrücklichen und bewegenden Ausdruck, der viele Passanten*innen auf dem abendlichen Schweriner Marktplatz zum Stehenbleiben und Verweilen veranlasste. Neben Klage und Wut ging es auch um mögliche Versöhnung, Mut und Stärke für Veränderungen.
Veränderungen werden durch Maßnahmen und Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen möglich. Das machte die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Wismar, Petra Steffan, in einem begleitenden Redebeitrag deutlich: Notwendig sind Bildung, der Zugang zu beruflichen Möglichkeiten, Aufklärung, Sensibilisierung und auch rechtliche Maßnahmen. „Es ist nicht ausreichend, die weibliche Genitalbeschneidung nur als kulturelle Praxis zu verurteilen. Wir müssen die tieferen Ursachen angehen, die zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Dazu gehört die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, der Zugang zu Bildung, die Stärkung von Frauen und Mädchen sowie die Beseitigung von Armut und Ungleichheit.“
Sie wies auf das Beratungs- und Hilfenetz für Betroffene häuslicher und sexualisierter Gewalt in MV hinweisen. Das Hilfenetz bietet Betroffenen Schutz und Beratung, leistet Prävention und Öffentlichkeitsarbeit. Dazu zählen unter anderem die fünf Fachberatungsstellen gegen sexualisiere Gewalt, die Fachberatungsstelle ZORA für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsverheiratung sowie die Landeskoordinierungsstelle CORA; die das Hilfenetz koordiniert und vernetzt.
An die Kunstperformance schloss am 22.06.2023 ein digitaler Fachtag an, der Multiplikator*innen die Möglichkeit bot, sich umfassend über Hintergründe, Formen und Folgen von weiblicher Genitalbeschneidung sowie über Rechte und Möglichkeiten von Betroffenen zu informieren.
Projektidee: Lavanya Honeyseeda, Dipl. Künstlerin, human rights activist, Initiatorin des Projekts, Hamburg
Veranstalterin: Frauenwerk der Nordkirche
Fragen zum Projekt: Delphine Takwi | delphine.takwiund@nochfrauenwerk.nordkirche.de
Inhaltliche Gestaltung: Lavanya Honeyseeda, Dipl. Künstlerin, human rights activist, Initiatorin des Projekts, Hamburg, Dr. Ursula Günther, Arbeitsstelle Ökumene/Interkulturelle Kirche Kirchenkreis Hamburg-Ost, Julika Koch, Referat Friedensbildung der Nordkirche, Hamburg, Sista Oloruntoyin, Künstlerin, zertifizierte Psychosocial Councelor, human rights activist, Hamburg, Irene Pabst, Referentin für Transkulturellen Dialog, Frauenwerk der Nordkirche, Hamburg, Claudia Rabe und Delphine Takwi, contra, Fachstelle gegen Frauenhandel in Schleswig-Holstein, Frauenwerk der Nordkirche, Kiel, Renate Sticke, Beratungsstelle TABU – Anlaufstelle Gesundheit, Frauen, Familie mit Schwerpunkt FGM/C, Diakonisches Werk Altholstein Kiel
Lavanya Honeyseeda
Lavanya Honeyseeda (Lavanya Boesten) wurde in Indien geboren und verbrachte ihre ersten Lebensjahre in einem Waisenhaus in Chennai. Nachdem sie von einem deutschen Ehepaar adoptiert wurde, wuchs sie in Kiel auf. Das Malereistudium an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Bonn/Alfter absolvierte sie mit dem Diplom. Unter anderem studierte sie Kunsttherapie und Pädagogik. Darauf folgte ein Masterstudiengang im Fachbereich Zeichnung und Druckgrafik an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel.
Honeyseeda ist seit über 10 Jahren als freischaffende Künstlerin tätig. Sie hat im Jahr 2016 mehrere künstlerische Projekte für die Diakonie Altholstein geleitet. Dabei gestaltete sie einen Raum für Frauen in der Gemeinschaftsunterkunft Kiel/Wik. Außerdem hat sie für die Landeshauptstadt Kiel mit einem internationalen Künstlerteam auf dem Gelände der Gemeinschaftsunterkunft Schusterkrug in Kiel/Friedrichsort die ehemalige Helikopterhalle (Halle 91) zu einem Begegnungs-, Veranstaltungs- und Lehrraum gestaltet. Honeyseeda war Initiatorin und Leiterin des interkulturellen Kunstprojektes mit dem Titel „Kieler Weltraum“.
Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Hamburg und engagiert sich für Frieden, Umweltschutz sowie Frauen- und Menschenrechte.
Sista Oloruntoyin
Sista Oloruntoyin ist eine Yoruba-Gesangs- und Performancekünstlerin und Mitglied von ARRiVATi, einem afrikanischen Kollektiv, das Kunst als Instrument des Widerstands einsetzt und Strategien für Emanzipation, Dekolonisierung und Gemeinschaftspflege entwickelt. Sie hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Selbstorganisation schwarzer afrikanischer Interessengruppen in Hamburg. So war sie z.B. Mitorganisatorin des African Womens Day im Rathaus Hamburg in Zusammenarbeit mit Gwladys Awo, Lessan e.V.
Sie ist Mitbegründer*in der BLACK COMMUNITY - COALITION OF JUSTICE & SELF-DEFENSE, einer Selbstorganisation für soziale Gerechtigkeit und politisches, pädagogisches und wirtschaftliches Empowerment sowie für die Verteidigung gegen Rassismus. Außerdem ist sie Mitglied von/ bei ABPSI (The Association of Black Psychologists), GPAN (Global Pan Africanism Network) und BMHM (Black Mental Health Matters).
Als zertifizierte psychosoziale Beraterin setzt sich Sista Oloruntoyin für die psychische und mentale Gesundheit und die Bedürfnisse der afrikanischen Diaspora-Gemeinschaften ein. Ihr Fokus liegt auf Psychologie in kulturellen Kontexten und auf afrikazentriertem Wissen und indigener Praxis.
WOMAN2WOMAN – ART OF HEALING
Unter diesem Titel liefen von Mai bis November 2022 eine Reihe von Workshops in Kiel und Hamburg für hier lebende Frauen, die direkt oder indirekt von weiblicher Genitalbeschneidung betroffen sind. In den kunsttherapeutischen Workshop sollten Frauen in ihrem Selbstvertrauen gestärkt und sie darin unterstützt werden, ihre Stärken zu entdecken. Die Workshops luden mit Bewegung, Musik, Rhythmus, Stimme, Malen, Zeichnen und Plastizieren zu neuen Sinneserfahrungen ein. Die teilnehmenden Frauen lernten, sich untereinander auf non-verbale Weise zu verständigen und vor allem, sich auf die Achtsamkeit für sich selbst und für andere Frauen auf intuitive Weise zu fokussieren.
Die weibliche Kraft, die Intuition, wird in jeder Frau gestärkt und in ihrer Schönheit und Vollkommenheit gefeiert. Diese ureigene weibliche Stärke der Frauen kommt auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck. Es geht auch darum, aufeinander zu lauschen und zuzuhören - egal ob gesprochen wird oder nicht. Die Wahrnehmung aller Gefühle, von Facetten der „positiven“ bis hin zu den vielschichtigen „negativen“ Gefühlen standen im Mittelpunkt der Workshops. Dem Raum zu geben, was ist, bringt Heilung. Alle Gefühle anzuerkennen und mit sich selbst in Kontakt zu treten, ist der erste Schritt.
Das kreative Arbeiten miteinander öffnete den Raum für den Austausch über die eigenen Erfahrungen als Frauen und im Leben in unterschiedlichen Kulturen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Das Erleben, im Zusammensein mit anderen Frauen emotional gehalten zu werden, wenn es um schwierige Themen geht, stärkte das Vertrauen zu sich selbst und zu anderen. Der Zusammenhalt unter Frauen, der Austausch von Erfahrungen und das Erleben von purer Freude sind die Grundlage der kreativ gestalteten Workshops. Eine Teilnehmerin drückte es so aus:
Wenn man nicht zu einer Gruppe wie dieser gehört, denkt man manchmal, dass man die Einzige auf der Welt ist, die diese Probleme durchmacht. Gott sei Dank bin ich in dieser Gruppe, und ich bin nicht allein mit meinem Schmerz, ich bin sehr froh, dass ich zu dieser Gruppe gehöre.
In den Workshops wurde mit unterschiedlichen Techniken gearbeitet. Die japanischen Kintsugi-Technik ermöglicht, schmerzhafte Erfahrungen und Narben symbolisch in etwas Schönes zu verwandeln. Jede Frau erhielt eine Porzellanschale, die sie zerbrechen sollte, als Sinnbild für schwere Erfahrungen. Dann wurden die Schalen in einem sorgsamen Prozess wieder zusammengesetzt und die Bruchlinien mit einem goldfarbenen Lack versehen. Am Ende sind neue, wunderschöne Schalen entstanden, die die Geschichte von Brüchen in sich tragen. Dieser Prozess fiel manchen Frauen nicht leicht, sie haben sich dennoch darauf eingelassen und jede konnte ihren Weg damit gehen. Teilnehmerinnen haben ihre Erfahrungen so beschrieben:
Ich hatte Angst, meine Schale zu kaputt zu machen, weil sie so schön aussieht. Ich dachte, ich könnte sie zum Essen benutzen, aber ich musste meinen Mut zusammennehmen und sie zerbrechen und jetzt fühle ich mich erleichtert. Das zeigt, dass wir uns manchmal an unsere Schmerzen gewöhnen, bis wir uns in sie verlieben und denken, dass sie Teil unseres Lebens sind, so wie ich mich in die Schale verliebt habe. Heute muss ich meinen Mut zusammennehmen und mich von meinen Schmerzen verabschieden, indem ich die Schale zerbreche und ich bin sehr glücklich.
Jetzt verstehe ich, was dieser ganze Prozess für mich bedeutet. Das zeigt, dass, wenn uns etwas passiert ist und wir uns auf einen Heilungsprozess einlassen, das bedeutet nicht, dass die Heilung sofort eintritt, so wie das Zusammenkleben von Glasscherben. Wir müssen warten, geduldig sein und dem Heilungsprozess seinen Lauf lassen.
Durch die Risse kann nun unser inneres göttliches Licht durchscheinen.
In einem anderen Workshop sind Bilder zum Thema „My Life-Line“ entstanden. Die Teilnehmerinnen trugen auf einer Leinwand verschiedene Farben auf und zeichneten dann ihre „Life Line“ von ihrer Geburt bis zur Gegenwart ein. Für schöne Erlebnisse konnten sie Blüten auf die Linie kleben, für schwere Erlebnisse Steine. Anschließend fand ein Austausch über die entstandenen Bilder statt. Die auf diese Weise gelungene gegenseitige Stärkung wird in diesem Zitat einer Teilnehmerin deutlich:
Was dir passiert ist, ist traurig, aber nur weil du heute lebst, zeigt es, dass du eine starke Frau bist.
Eine andere Frau sagte:
Wir müssen als Frauen immer weiterkämpfen und dürfen das Leben nie aufgeben, denn eines Tages wird die Sonne in unsere Richtung scheinen.
Es schlossen sich noch zwei weitere "Women Empowerment Meetings“ an, in denen es um Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen von Genitalbeschneidung und Genitalbeschneidung als Grund für Asyl in Deutschland ging. Die betroffenen Frauen lernten auf diese Weise ihre Rechte und Möglichkeiten kennen, z.B. die Möglichkeit der Rekonstruktion des Genitals. Dieses Wissen stärkt sie darin, ihren Weg zu gehen und ihre Stimme zu erheben, wenn es um ihre Töchter geht. Sie sind diejenigen, die die Gegenwart und Zukunft verändern können.
Weibliche Zwangsgenitalbeschneidung – diversitätssensible Perspektiven
Fachtag am 13.09.2022 in Hamburg
Text: Nadia Al Kureischi, Hamburg
Am Eingang des Saals im Barmbek Basch Zentrum ziehen zwei Fotowände die Blicke auf sich. Kunstwerke sind auf den Bildern festgehalten. Da kräuselt sich durch ein Flächenbild in tiefem Blau ein hellbraunes Band wie ein Fluss, ein Lebensfluss, in dem kleine (echte) Steine verankert sind und unübersehbar Einschnitte zu markieren scheinen. Es ist ein bisschen, als würde die Welt auf den Kopf gestellt: Die Erde blau, der Fluss braun. Zwischendrin türkisfarben gezeichnete Becken, die etwas geborgen halten oder auch: offenlegen? Auf einem anderen Bild steht ein kräftig grün sprießender Baum im Kontrast zu dem auch hier markanten Motiv des hellbraunen Bands, das sich über der lebensspendenden Baumkrone windet – ebenfalls mit einem Stein mittendrin.
Vor den Wänden stehen die Betrachtenden, lassen diese Bilder auf sich wirken, lesen die begleitenden Texte und Zitate, die sie auf das Thema einstimmen, das sie heute hier in Vortrag, Workshops und Podiumsdiskussion erwartet: weibliche Genitalbeschneidung (FGM/C = Female Genital Mutilation/Cutting).
Die Bilder sind einnehmende Zeugnisse des Empowerments von betroffenen Frauen, die sich in der Workshopreihe „Women2Women – the Art of Healing“ aus dem Kunst- und Bildungsprojekt „Menschenrechtsverletzung weibliche Genitalbeschneidung – Dialogräume eröffnen“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) auf künstlerische kreative Weise auf den Weg der Heilung gemacht und ihre innersten Empfindungen und Gedanken artikuliert haben. Begleitet wurden die Frauen von den Künstlerinnen Lavanya Honeyseeda, die das Projekt initiiert hat, und Sista Oloruntoyin. Die Kunstwerke zeigen, wozu Frauen aus allen Teilen der Welt fähig sind, wenn sie sich zusammentun, sich gegenseitig unterstützen und dem, was ist, Raum geben, um Traumata zu überwinden, Stärken zu entdecken und Heilung zu erfahren. Eine Verständigung ganz ohne Worte.
„Wenn man nicht zu einer Gruppe wie dieser gehört, denkt man manchmal, dass man die Einzige auf der Welt ist, die diese Probleme durchmacht. Gott sei Dank bin ich in dieser Gruppe, und ich bin nicht allein mit meinem Schmerz, ich bin sehr froh, dass ich zu dieser Gruppe gehöre.“
Zitate wie dieses, die die Künstler*innen ihren Werken beilegen, unterstreichen die Wirkkraft dieser non-verbalen Ausdrucksmöglichkeit und setzen den achtsamen, offenen Ton für das, was heute auf der Agenda steht.
FGM/C und tradierte männliche Macht
Eine Gruppe von Fachpersonen aus Beratung, Gesundheitswesen, Frauensozialarbeit und Bildungsarbeit sowie Ehrenamtliche und Interessierte ist zu diesem Fachtag zusammengekommen, um zum Thema „Weibliche Zwangsgenitalbeschneidung – diversitätssensible Perspektiven“ im Rahmen des Projekts für eine adäquate Unterstützung und Stärkung der von FGM/C betroffenen Frauen Dialogräume zu öffnen und den Blick zu schärfen. Es geht den Veranstalter*innen aus der Nordkirche und den Mitwirkenden Gwladys Awo (Expertin für FGM/C, Autorin und Vorsitzende des Vereins LESSAN e.V.), Mariama Diallo (Aktivistin für Kunst und Transformation), Ann-Marlene Henning (Sexual- und Paartherapeutin), B.O. (Workshop-Teilnehmende) und Delphine Takwi (Sozialpädagogin in der Fachstelle gegen Frauenhandel in Schleswig-Holstein contra) darum, Handlungsmöglichkeiten für den Einsatz gegen FGM/C aufzuzeigen, ohne zu stigmatisieren. Es ist der Wunsch nach Austausch darüber, was Betroffene und deren Communities sowie beratende Institutionen brauchen, um effektiv gegen Frauen betreffende Menschenrechtsverletzung vorzugehen.
Es ist ein wichtiges Thema, ein dringendes Thema, denn weltweit sind laut Gwladys Awo mehr als 200 Millionen Frauen und Mädchen von Zwangsgenitalbeschneidung betroffen (in Deutschland sollen es ihrer Schätzung nach bis zu 200 000 sein), und damit von einem patriarchalen Umgang mit Weiblichkeit und weiblicher Sexualität. Die Motive sind vielfältig, reichen von mythischen über ökonomische bis hin zu pseudomedizinischen Gründen. Ihnen allen ist gemein, dass sie Ausdruck männlich geprägter Strukturen sind, des Wunsches danach, weibliche Lust und Sexualität zu kontrollieren und Frauen der tradierten männlichen Macht unterzuordnen. Wer sich der Beschneidung entzieht, ist bedroht von Stigmatisierung, Ausschluss aus der Gesellschaft und Femizid. Abhängigkeitsverhältnisse lassen Betroffenen meist keine andere Wahl, als sich zu fügen, Schäden an Körper und Seele sind die Folge.
Multitraumata liegen wie ein Stein im Raum
Oft, so betonen die Expert*innen Gwladys Awo und Delphine Takwi, seien diese Traumata in der Beratung durch andere Frauenrechtsverletzungen überdeckt, wenn Frauen sich evtl. in einer Spirale aus Beschneidung, Flucht, Vergewaltigung und Zwangsprostitution darüber hinaus dem Vorwurf von Unreinheit und Schande ausgesetzt sehen und Isolation erfahren. Es seien Multitraumata, „die wie ein Stein im Raum liegen“, wie es Gwladys Awo ausdrückt. Und man denkt an die Fotogalerie am Saaleingang, an die Steine auf den Kunstwerken, die den freien Lebensfluss behindern. Die Startchancen der betroffenen Mädchen und jungen Frauen in ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben sind denkbar schlecht, gerade wenn ihnen Bildung und Berufschancen und damit wirtschaftliche Unabhängigkeit verwehrt sind.
FGM/C ist also ein Teil der mehrdimensionalen Gefährdung von Frauen, der Gewalt gegen sie, ihrer Diskriminierung überall auf der Welt. Daher geht, so macht der Tag deutlich, FGM/C alle an. Mit diesem erweiterten Blickwinkel ist ein Verständnis gegenüber intersektionalen Prozessen möglich – eine Voraussetzung für die Hilfe zur Selbsthilfe der Betroffenen. Es ist ein Blick, der vor allem eines verlangt: die eigene Perspektive als nicht betroffene Fachperson zu hinterfragen.
Transkultureller Dialog – die Betroffenen und sich selbst im Blick haben
Denn nur die beratende Person, die sich bewusst sei, durch welche Brille sie schaut, könne eine Brücke schlagen in die Welt der Betroffenen, wird im Fachgespräch betont. Es geht um den transkulturellen Dialog, darum, mit den betroffenen Frauen zu sprechen, nicht über sie. Ein erster Schritt sei es zum Beispiel, Worte und Begrifflichkeiten in der Sprache der Betroffenen zu nutzen (z. B. wie FGM/C jeweils konkret genannt wird) und damit deren Welt zu betreten, sich hindurchführen zu lassen und sie mit allen Facetten anzuerkennen – aber eben nicht nur sie. Die Einladung, diese Brille immer mal wieder zu putzen und sich der Bedeutung des eigenen Anteils der Beratenden in den Gesprächen bewusster zu werden, zieht sich durch den gesamten Tag, wenn gefragt wird: „Mit welcher Perspektive schaust du heute auf das Thema?“ (in der Begrüßungsrunde), „Aus welcher Perspektive sprichst du heute?“ (im Fachgespräch) „Welches Bild hast du bei dem Thema vor Augen?“ (im Kunst-Workshop) oder „Wie gewillt bin ich, kein vorgefertigtes Hilfsangebot zu machen, sondern aus der Perspektive der Hilfesuchenden zu schauen und zu agieren?“ (im Workshop zu diversitätssensibler Beratungsarbeit).
Die Anwesenden lassen sich auf den Dialog ein, zu dem die unterschiedlichen Räume sie einladen, werden sich bewusst, inwieweit sie Hörende im jeweiligen Dialograum sind und welchen Anteil sie selbst dabei einbringen. So machen sie sich im Workshop „Genitales Selbstbild“ mit einer Vulva aus Plüsch vertraut, erkunden sie haptisch und visuell, lachen, sind berührt und überrascht. Ein Fotoband mit diversen Vulven wird herumgereicht. Sich selbst bzw. das eigene Genital aus einer akzeptierenden Perspektive zu betrachten ist für einige eine Offenbarung, für manche überfordernd, das wird erkennbar. Und das ist bedeutsam für die Beratung.
Das Genital geht uns alle an – ein Tabu überwinden
Viele Frauen aus der weißen Mehrheitsgesellschaft, so berichtet Sexualtherapeutin und Autorin Ann-Marlene Henning, seien es nicht gewohnt, über weibliche Sexualität zu sprechen, geschweige denn ihre eigene Vulva anzuschauen. Viele von ihnen würden ihr eigenes Genital nicht kennen, lehnten es ab wegen überkommener, immer noch subtil in der Öffentlichkeit transportierter Bilder, die das weibliche Genital als seltsam fremd oder gar unrein ablehnten. Tradierte Bilder also auch hier, in denen sich Sexismus gegen Frauen zeigt – vor allem von Frauen selbst verinnerlichter Sexismus gegen ihr eigenes Geschlecht. Das Tabu der Sexualität sei kulturübergreifend auch in der weißen Mehrheitsgesellschaft noch immer groß.
Und so betont Henning, die über das genitale Selbstbild von Frauen forscht, dass Aufklärung und Bildung auch für die (meist weiblichen) Beratenden entscheidend seien, um das eigene Tabu in der weißen Mehrheitsgesellschaft überwinden und andere Frauen zu dem Thema FGM/C unterstützen zu können. Denn nur, wer sich mit sich selbst auseinandersetze, könne in einen Dialog mit anderen einsteigen. Henning hat in ihren Studien nachweisen können, dass das Körpergefühl einer Frau korreliere mit den Gesprächen über Liebe und Sex, die sie als Kind und junge Frau mit den Eltern führen könne. Je mehr und besser die Gespräche, besonders mit dem Vater seien, desto positiver entwickele sich das eigene Körpergefühl.
Es ist ein Aspekt, der weiterführt und die Perspektive in der Beratung für von FGM/C Betroffene öffnet, weg von „denen“, hin zu „uns“. Das Genital geht uns alle an. Daher ist es ratsam, die Perspektive zu hinterfragen, die „die anderen“ in den Vordergrund stellt, statt „uns alle“ als Agierende zu sehen, wenn es um das Thema FGM/C geht.
Lasst uns reden: Powersharing und Empowerment
Diversitätssensible Perspektiven tun sich viele auf an diesem informativen Tag: Der geschützte Rahmen ermöglicht zum einen, dass eine der Betroffenen das erste Mal in ihrem Leben öffentlich von der traumatischen Beschneidung berichtet. Sie erlebe diesen Moment als erleichternd und befreiend, ihr Mut wird mit großem Respekt und Dankbarkeit gewürdigt. Aus ihrem Bericht wird deutlich, dass der Druck der gesellschaftlichen Zwänge es Frauen in den Communities, die FGM/C kritisch gegenüberstehen, sehr schwermacht. Zum anderen gibt B. O. an diesem Tag Einblicke in das großartige Empowerment der betroffenen Frauen der Projekt-Workshops, an denen sie teilnimmt. Indem die Frauen Probleme ansprechen und Erfahrungen sowie Ratschläge austauschen würden, leisteten sie Powersharing. „Wir sind wie eine Familie. Wir teilen die Probleme gemeinsam, wir stehen zusammen auf unseren Füßen und kämpfen.“ Und in ihrem Workshop zeichnet Gwladys Awo das wunderschöne Bild von jeder Frau, die eine Königin sei und besondere Fähigkeiten habe, die manchmal verdeckt seien. „Als Beraterinnen müssen wir Putzarbeit leisten und die Sterne wieder zum Leuchten bringen, auf jede Frau individuell eingehen und ihre Stärken entdecken. Das ist gelebte Diversität.“
Eurozentristische Perspektiven überwinden
An diesem Tag werden gewohnte, eurozentristische Perspektiven infrage gestellt, geradegerückt und neu ausgerichtet hin zu einer Perspektive, die sowohl den Betroffenen als auch den Beratenden und anderen Multiplikator*innen neue Räume öffnet. So wird aufgeräumt mit dem Vorurteil, FGM/C sei vor allem in Afrika anzutreffen, wie Medien und Studien suggerieren, die auf diesen Kontinent ihre Aufmerksamkeit fokussieren. Das sei, so betont Gwladys Awo in ihrem Vortrag, ein noch immer nicht genügend hinterfragter Rassismus, dessen Motive im Kolonialismus begründet liegen würden. Denn weibliche Genitalbeschneidung kommt weltweit vor. Wichtig sei, die eurozentristische Perspektive auf das Thema zu verlassen, sich mit Expert*innen aus der jeweiligen Community zusammenzutun, Traditionen und Rituale der Community zu beachten und herauszufinden, welche Unterstützung die Betroffenen am meisten brauchen, und erst dann gemeinsam zu handeln in Form von konkreten Projekten und Förderungen. Sachgerechte Studien seien die, die aus der Community mit Expert*innen aus der Community durchgeführt würden. Auch hier kann also die Perspektive erweitert werden.
Bildung ist alles!
Am Ende steht eine wichtige Erkenntnis, um FGM/C wirkungsvoll zu überwinden und Frauen zu schützen: der Einsatz für Bildung, Ausbildung und Berufsausübung von Frauen. Aufklärung und Emanzipation verweisen die vorgeschobenen Gründe von FGM/C dorthin, wohin sie gehören: ins Reich der gefährlichen patriarchalen Mystifizierung von Weiblichkeit. Ausbildung und Berufstätigkeit ermöglichen es Frauen, ökonomisch unabhängig zu sein und ein starkes Selbstwertgefühl in neuen Milieus und sozialen Beziehungen zu entwickeln. So gestärkt können sie sich gegen FGM/C einsetzen und Gehör finden, das betonen vor allem die betroffenen Frauen. „Meine besten Multiplikator*innen sind die, die ich unterstützt habe, beruflich anzukommen“, bestätigt auch Gwladys Awo. Noch knapper auf den Punkt bringt es Mariama Diallo: „Bildung ist alles. Lasst uns uns gegenseitig emanzipieren.“
In diesem Sinn ist der Weg gewiesen. Mit dem Fachtag ist ein wichtiger Dialograum geöffnet worden für den transkulturellen Blick in der Beratungsarbeit und der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Themas, wie die Feedbackrunde zum Abschluss hervorhebt. „Ich möchte mich bei allen Organisator*innen und Mitwirkenden bedanken. Das war ein ganz besonderer Fachtag. Vor allem das direkte und offene Gespräch mit betroffenen Frauen hat meinen Horizont geweitet und viele Dinge in ein neues Licht gerückt,“ so eine Teilnehmerin. Der Dialograum wartet nun darauf, von den Beratenden und den Multiplikator*innen betreten zu werden, um den betroffenen Frauen und den Communities mit einer adäquaten Unterstützung gerecht zu werden.